Ein Heimkind

Kinder – verschickt von Ort zu Ort, stigmatisiert und gedemütigt ... Der Text von Urs Hafner zeigt, wie es (allein) durch eine Professionalisierung der Betreuung gelingen konnte, das Wohl und die Rechte der Kinder in schweizerischen Heimen zu respektieren.

Die Gesellschaft bringt Heranwachsende, die in familiären Verhältnissen gross werden, an denen sie Schaden zu nehmen drohen, in erzieherischen Einrichtungen unter. Kinder- und Jugendheime sollen die Selbstreflexion, Selbstverantwortung und Konfliktlösungsfähigkeit ihrer Klienten fördern, damit diese als Erwachsene ein selbstständiges Leben führen können.

Viele Heime sind vom Bund zertifiziert. Für die finanziellen Beiträge, die sie von ihm erhalten, müssen sie jährlich Rechenschaft ablegen. In den siebziger Jahren gehörte dazu das Einreichen des «Formulars A», das Angaben zu den Insassen enthielt. 1976 hält eine christliche Institution zu einem achtjährigen Knaben fest, er habe zwölf Platzierungen in Heimen und Familien sowie zwei misslungene Adoptionsversuche hinter sich, sei stark verhaltensgestört und weise eine frühkindliche affektive Verwahrlosung auf.

Offenbar wird der Knabe von Ort zu Ort geschoben und mit stigmatisierenden Charakterisierungen versehen. Beides dürfte seinem Wohlergehen kaum zuträglich gewesen sein. Er ist kein Einzelfall. Die Geschichte der «Rettungsanstalten», wie die philanthropischen Bürger ihre neu gegründeten Einrichtungen im 19. Jahrhundert nannten, ist grösstenteils eine Geschichte der mit religiösem Eifer betriebenen Entmündigung und Demütigung von unehelichen Kindern aus den Unterschichten. Erst in den 1970er Jahren wird die Heimunterbringung entkonfessionalisiert und versachlicht. Die Kinder sollen nicht mehr systematisch von ihrem Herkunftsmilieu getrennt werden. Heute sollen sie gar, zumindest in der Theorie, vollumfänglich an den Entscheiden über ihre Platzierung «partizipieren» dürfen.

Autor: U. Hafner

Weiterführende Informationen

Dokumentation

Quellen

formular_a_heiminsassenherisau.pdf (PDF, 13 MB, 17.12.2013)Quelle: CH-BAR#E4112B#1991/148#165*, Bd. 24, Az. 21-9100, Kinderheim Gott hilft, Herisau, 1977-1977. Teilbestand: E4112B* Bundesamt für Justiz: Teilregistratur Straf- und Massnahmenvollzug (1980-1990)

Hafner, Urs.

Heimkinder. Eine Geschichte des Aufwachsens in der Anstalt, Baden 2011. ISBN 978-3-03919-218-2

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